tutorium_singing

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In diesem Tutorial sollen die im Tutorial: Spektraldarstellung mit dem Sonic Visualiser gewonnenen Einsichten anhand einer Gesangsaufnahme weitergeführt und vertieft werden. Dabei geht es um die Analse der melodischen Gestaltung, der klanglichen Eigenheiten und des Rhythmus.

 Bitte laden sie sich come_back_baby.mp3 auf Ihren Computer. 
 Hören Sie sich die Aufnahme in Ruhe an. Was fällt auf?

come_back_baby.mp3

Es handelt sich um die Aufnahme des Songs „Come Back, Baby“ (1954) des Soul-Sängers Ray Charles. Bei dieser Mono-Aufnahme steht der Gesang von Charles ganz im Mittelpunkt; die Begleitband (Rhythmusgruppe, Bläser) ist relativ leise im Hintergrund zu hören. Dies ist von Vorteil für die Analyse des Gesangs, dessen spektrale Darstellung auch im Spektrogramm gut zu erkennen ist und nicht durch die Begleitband „zugedeckt“ wird.

 Bitte fertigen Sie im Sonic Visualiser eine Spektraldarstellung der Aufnahme an. 
 Schauen Sie sich beim erneuten Anhören die Spektraldarstellung an (follow playback: scroll). 
 Vergleichen Sie Ihren Höreindruck mit dem, was Sie im Spektrogramm sehen.
 Was fällt Ihnen zusätzlich auf?    

Die folgenden Abschnitte widmen sich Auffälligkeiten der melodischen, klanglichen und rhythmischen Gestaltung der Aufnahme, wie sie im Spektrogramm zu beobachten sind.

Grundton (F0) und Obertöne sind im Spektrogramm als parallele Linien zu erkennen.

 Was fällt auf, wenn Sie die Gesangslinie betrachten?
 Wie gestalten sich im Vergleich dazu die Bläserakkorde im Hintergrund?
 
 Suchen Sie in der Aufnahme Passagen mit
 - einem starken Gleiten der Stimme
 - Vibrato
 - verschiedenen Ornamentierungen 

In der klanglichen Gestaltung des Gesangs überlagern sich verschiedene Aspekte:

  • Eigenheiten der Sprache (Vokalformanten, Konsonanten)
  • der anatomisch bedingte persönliche Klang einer Stimme
  • spezielle melodische Ausdrucksmittel (Schleifer, Ornamente etc.)
  • Einsatz der unterschiedlichen Stimmregister (Bruststimme, Falsett etc.)
  • Einsatz verschiedener Stimmgebungsarten und Gesangstechniken (Schreien, Belting, Crooning; Rauigkeit, Behauchtheit, Twang etc.)

Mit etwas Übung lassen sich manche dieser Eigenheiten - aber leider nicht alle - im Spektrogramm erkennen.

 Hören Sie sich die Aufnahme noch einmal an. 
 Notieren Sie sich die klangliche Eigenheiten von Ray Charles.
 Wie klingt seine Stimme - generell und in bestimmten Passagen?

Obertonstruktur und Formanten (Formantbereiche) der Vokale:
Die Grundschwingung der Stimmlippen (F0) entspricht in der Regel der wahrgenommenen Grundtonhöhe. Die ersten beiden Formanten F1 (Rachenraum) und F2 (Lippenraum) sind für die Verständlichkeit der Vokale wichtig. Die Lage dieser beiden Formantbereiche charakterisiert den gesprochenen oder gesungenen Vokal.

 Vokal          F1      F2
 U 	​u​ 	320 Hz 	800 Hz
 O 	​o​ 	500 Hz 	1000 Hz
 å   	​ɑ​ 	700 Hz 	1150 Hz
 A 	​a​ 	1000 Hz 1400 Hz
 ö   	​ø​ 	500 Hz 	1500 Hz
 ü 	​y​ 	320 Hz 	1650 Hz
 ä 	​ɛ​ 	700 Hz 	1800 Hz
 E 	​e​ 	500 Hz 	2300 Hz
 I 	​i​ 	320 Hz 	3200 Hz
 Vergrößern Sie bitte den unteren Bereich des Spektrogramms 0 - ca. 4000 Hz. 
 Können Sie bei (laut) gesungenen Vokalen die verschiedenen Formantbereiche F1 und F2 erkennen?

Der dritte und der vierte Formantbereich F3 (Mundraum, ca. 2-3 kHz) und F4 (ca. 3-5 kHz) sind für die Artikulation der Vokale nicht mehr wesentlich. Sie charakterisieren eher die Anatomie der Sänger*in, ihre Artikulationseigenarten und ihr 'Timbre'.

Für die Klangwirkung einer Gesangsstimme in Abhängigkeit von besonders hervorgehobenen Formant- bzw. Frequenzbereichen gibt es nur grobe Orientierungspunkte (Quelle):

 hoher Pegel bei 	Klangempfindung Formanten
 200 bis 400 Hz 	sonor 	        1. Formant u
 400 bis 600 Hz 	voll 	        1. Formant o
 800 bis 1200 Hz 	markant 	1. Formant a
 1200 bis 1800 Hz 	näselnd 	2. Formant ü
 1800 bis 2600 Hz 	hell 	        2. Formant e
 2600 bis 4000 Hz 	brillant 	2. Formant i
 8000 Hz 	        spitz 	        diffuse „Höhen“
 über 10000 Hz 	        scharf 	        Oberton-„Glanz“ 

Konsonanten: Zischlaute wie s oder sch sind im Spektrogramm als Wolken (Rauschen) zu erkennen.

 Wo sind in der Spektraldarstellung Zischlaute gut zu erkennen?

Passagen im Falsett (Mann) oder der Kopfstimme (Frau) besitzen - im Vergleich zur vollen Brust- oder Modalstimme - relativ wenige bzw. weniger stark ausgeprägte Obertöne. Dies ist darauf zurückzuführen, dass nur der Rand der Stimmlippe in einer vergleichweise sinusartigen Bewegung schwingt.

Passagen mit rauer und heiserer Stimmgebung sind entweder als Rauschen (graue Wolken) zu erkennen, oder aber es sind bei Rauigkeit zwischen den parallel verlaufenden Obertönen weitere parallele Linien zu erkennen. Diese Subharmonics (zwischen den harmonics, den harmonischen Teiltönen) weisen auf ein weiteres Schwingungselement (z.B. die Taschenfalten oberhalb der Stimmlippen) hin, dessen Schwingungen sich mit der Stimmlippenschwingungen überlagern.
Eine behauchte Stimmgebung erkennt man am hohen Anteil von Rauschen (graue Wolken).

 Versuchen Sie nun Ihre Notizen zum Stimmklang (s. oben) auf die geschilderten Phänomene zu beziehen. 
 Suchen Sie im Spektrogramm der Aufnahme von Ray Charles nach den genannten Phänomenen: 
 - bestimmte Timbre-Qualitäten
 - Passagen im Falsett
 - Passagen mit großer Rauigkeit
 Schauen Sie sich die Passage 1:42 - 1:46 genauer an. 
 Was ist hier zu erkennen?
 

 Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen dem Rhythmus von Gesang und Begleit-Band?

Tipp: Wählen Sie eine langsamere Abspielgeschwindigkeit und versuchen Sie dann den Grundschlag der Band (Schlagzeug) mitzuschlagen. Achten Sie darauf, welche vertikalen Linien im Spektrogramm den einzelnen Beats entsprechen. Wird der Grundschlag in zwei (binär), drei (ternär) oder vier (quarternär) Schläge unterteilt?
Schauen Sie nun, wo jeweils die Gesangstöne von Ray Charles beginnen. Erklingen diese synchron zur Band, davor oder danach? Wenn letzteres: Wie groß ist in etwa der Abstand zwischen Gesang und Band in Millisekunden? Welchem Notenwert entspricht dies? (Zur Orientierung: Bei einem Tempo von 60 bpm ist jeder Beat genau 1 Sekunde lang. Das Stück „Come back Baby“ steht in einem Tempo von ca. 45 bpm…)

Visualieren Sie nun eine Gesangsaufnahme Ihrer Wahl und versuchen Sie, an der Spektraldarstellung ausgewählter Ausschnitte die Besonderheiten der melodischen, klanglichen und rhythmischen Gestaltung zu beschreiben. Achten Sie bei Ihrer Wahl darauf, dass der Gesang nicht durch die Begleitband überdeckt wird - oder wählen Sie Passagen, in denen der Gesang besonders exponiert ist (z.B. Solo-Passagen zu Beginn einer Aufnahme oder bei Breaks).

Sie können auch Notizen direkt ins Spektrogramm schreiben, indem Sie ein text layer erzeugen und anschließend die gesamte Session abspeichern.
Exportieren Sie aussagekräftige Ausschnitte (File - Export Image File), um sie in Textdatei oder eine Präsentation einzubinden.

Hähnel, Tilo: „Was ist populärer Gesang? Zur Terminologie vokaler Gestaltungsmittel in populärer Musik“, in: Stimme, Kultur, Identität. Vokaler Ausdruck in der populären Musik der USA (1900-1960), hrsg. von Martin Pfleiderer, Tilo Hähnel, Katrin Horn und Christian Bielefeldt (= texte zur populären Musik, Bd. 8), Bielefeld: transcript 2015, S. 53-72.

Heidemann, Kate (2016): „A System for Describing Vocal Timbre in Popular Song“, in: Music Theory Online 22/1, online.

Pfleiderer, Martin, Tilo Hähnel und Tobias Marx (2014), „Methoden zur Analyse der vokalen Gestaltung populärer Musik“, in: Samples. Online-Publikationen der Gesellschaft für Popularmusikforschung / German Society for Popular Music Studies e.V., Jg. 12 pdf.

Pfleiderer, Martin: „Vocal Pop Pleasures. Theoretical, Analytical and Empirical Approaches to Voice and Singing in Popular Music“, in: IASMP@Journal. Online Journal of the International Association for the Study of Popular Music, 1/1 (2010) online.

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  • Zuletzt geändert: 2021/05/31 16:16
  • von martin